Am 19. Juni 2021 begann ein wochenlanger Streik in der iranischen Öl- und Gas-Industrie, bei dem die Arbeiter*innen gegen Niedriglöhne und befristete Verträge kämpften. Neben besseren Schicht- und Freizeitregelungen forderten sie auch ein Ende von Diskriminierung und Ungleichbehandlung. Mehr als 60.000 Streikende, darunter viele Vertragsarbeiter*innen, legten in über hundert Betrieben der Petrochemie in Dutzenden Städten die Arbeit nieder.
Seit der Iranischen Revolution von 1978 war dies der größte Arbeitskampf in der Ölindustrie, obwohl in der Islamischen Republik alle unabhängigen Gewerkschaften verboten sind. Der Ausstand weitete sich trotz der Massenentlassungen aus, denn auf die leeren Versprechen des Mullah-Regimes hat kaum jemand noch Vertrauen. Da es keine legale Stellvertretung gibt, organisiert sich die Streikbewegung in Fabrik-Räten oder auf Vollversammlungen, wobei sie von Rentner*innen und Familienangehörigen unterstützt werden.
Auch in der Zuckerrohrfabrik von Hafta Tapeh gingen streikende Arbeiter*innen tagelang auf die Straße, um ihr Anliegen zu bestärken. Sie forderten eine Enteignung der privaten Unternehmen und die Auszahlung der ausstehenden Löhne, sowie die Wiedereinstellung aller Entlassenen und die Verlängerung von Arbeitsverträgen. Angesichts der auch im Iran grassierenden Corona-Pandemie forderten sie eine schnelle und kostenlose Impfung aller Beschäftigten. Sie solidarisierten sich außerdem mit der Bevölkerung der Region Khuzestan, die ebenfalls für bessere Lebensbedingungen auf die Straße ging.
Denn nicht nur breite Arbeitskämpfe haben diesen Sommer in der Islamischen Republik stattgefunden. Seit Mitte Juli gab es Massenproteste, ausgehend von der iranischen Provinz Khuzestan, nachdem es dort zu massiver Wasserknappheit und Stromausfällen gekommen war. Expert*innen hatten bereits seit Jahren gewarnt, dass am Persischen Golf eine Wasserkrise droht, die bis zu 50 Millionen Menschen zur Flucht vor der Dürrekatastrophe zwingen könnte. Sogar das Forschungszentrum des iranischen Parlaments hatte diese Gefahr erkannt und der Warnung der Wissenschaftler*innen grundsätzlich zugestimmt.
Als es im Juli 2021 zu einer massiven Trinkwasser-Unterversorgung der Bevölkerung kam, reagierten die Menschen darauf mit spontanen Straßenprotesten. Die tagelangen Demonstrationen begannen zunächst in der ölreichen Provinz Khuzestan, wo es tagsüber bis zu 50 Grad heiß werden kann. Hinzu kamen verheerende Waldbrände, wie in Gachsaran und am Berg Khomi, einem Naturschutzgebiet in der west-iranischen Provinz Kohgiluye und Boyer Ahmad.
Mitte August standen auch die „Gili Kahoran“-Wälder in Merivan im Nord-Westen des Iran etwa eine Woche lang in Flammen. Es kamen jedoch keine Helikopter oder Löschflugzeuge der Regierung in Teheran, weshalb Bewohner*innen und Umweltaktivist*innen in der Provinz Kurdistan tagelang mit bloßen Händen gegen die Brände kämpfen mussten. Die Brandstiftungen in der Steppe von Zaribar haben den Lebensraum dieses Feuchtgebiets ernsthaft in Gefahr gebracht. Laut Gesetz. eigentlich sind die regionalen Umweltbehörden von Marivan für die Erhaltung dieses natürlichen Ökosystems verantwortlich, aber diese blieben untätig. Dadurch sind riesige Flächen den Flammen zum Opfer gefallen, doch diese Umweltzerstörung ist den Medien keine Meldung wert.
Die aktuelle Protestbewegung richtete sich daher nicht nur gegen die akute Wasserknappheit, sondern auch gegen die häufigen Stromausfälle und allgemein gegen das repressive Mullah-Regime. Die Demonstrationen hatten sich schnell auf 17 Städte in mehreren Regionen ausgebreitet. Das Internet wurde daraufhin in vielen Provinzen, in denen die teilweise bewaffneten Proteste stattfanden, eingeschränkt. Daher war es sehr schwierig, Zugang zu verlässlichen Nachrichten zu bekommen.
Doch aus Dezful, Ramhormoz, Hafta Tapeh, Buschehr, Behbahan und Maschahr wird in sozialen Medien über Straßenblockaden von Aufständischen berichtet, wobei auch Steine geworfen und brennende Barrikaden errichtet wurden. Die Truppen des Mullah-Regimes erschossen zahlreiche unbewaffnete Protestierende aus nächster Nähe und feuerten Gasgranaten in Wohnhäuser.
Am 20.07. hatten in Susangerd einige Demonstrant*innen einen Panzer in Brand gesetzt. Tage zuvor war in Hosseinabad ein Fahrzeug der paramilitärischen „Revolutionsgarde“ (IRGC) angezündet worden. Auch im Gefängnis von Urmia gab es einen Aufstand: Einige Häftlinge hatten Bettdecken in Brand gesetzt und das Wachpersonal angegriffen, nachdem drei zum Tode verurteilte Insassen in Einzelhaft gebracht wurden, um deren Hinrichtung vorzubereiten.
Bei den Straßenschlachten wurden allein in den ersten drei Protestnächten vier junge Männer von der Staatsmacht erschossen. Auch ein 16-jähriger wurde ermordet und mindestens zwei weitere Tote gab es bei Protesten in Izeh. Die Menschen in Khuzestan riefen: „Wir wissen, dass ihr mit Kugeln und Waffen vor uns steht, aber der Tod ist unser Verlangen nach Freiheit“. In einer U-Bahn der Hauptstadt Teheran riefen die Menschen sogar „Nieder mit der Islamischen Republik“. Außerdem verlangen sie die Freilassung der politischen Gefangenen, denn es gibt weiterhin unzählige inhaftierte Lehrer*innen und Frauenrechtler*innen, sowie die am 1. Mai festgenommenen Demonstrant*innen und andere Oppositionelle.
Am Abend des 24.07. gingen die Menschen auch in Saqqez, der Hauptstadt der iranischen Provinz Kurdistan, auf die Straße, um die Proteste in der Region Khuzestan zu unterstützen. Auch in Tabriz, der Provinzhauptstadt von Ost-Aserbaidschan, gingen Einheimische auf die Straßen und riefen „Solidarität mit Khuzestan“. In den aserbaidschanisch geprägten, iranischen Städten Urmia, Tabriz und Ardabil hatte das iranische Regime daraufhin die Internetverbindugen teilweise stark gestört und unterbrochen, um eine Ausweitung der Austände zu unterbinden. Bereits bei dem Aufstand im Jahr 2019 hatte das schiitische Regime das Internet gesperrt und innerhalb von drei Tagen etwa 1.500 Menschen ermordet.
Gleichzeitig gingen in Ahvaz, der Metropole der süd-westlichen Aufstandsregion Khuzestan, auch zwei Wochen nach Beginn der Revolte die Straßenkämpfe weiter. Dabei kam es immer wieder zu schweren Zusammenstößen zwischen der Bevölkerung und Sicherheitskräften des Mullah-Regimes. In Chamran, Bandar und Mahshahr schossen Sicherheitkräfte nachts auf die Häuser der lokalen Bevölkerung, um sie einzuschüchtern und zu terrorisieren.
Bei den Protesten im Iran gab es mindestens acht Tote, zahlreiche Verletzte und viele Festnahmen, doch offizielle Zahlen dazu wurden bisher nicht veröffentlicht. Bewaffnete Sicherheitskräfte holten sogar verletzte Demonstranten aus den Krankenhäuser und brachten sie ins Gefängnis. Aus Angst vor Verhaftung und Folter wird von vielen Protestierenden nun keine Krankenhausbehandlung mehr in Anspruch genommen. Doch der Widerstand lässt sich nicht so leicht unterdrücken. In Teheran und Karaj versammelten sich Anfang August sogar einige Rentner*innen, um die Proteste der Menschen in Khuzestan zu unterstützen. Sie riefen dabei „Khuzestan ist nicht allein“, wie ein Internet-Video zeigt.
Auch heute kämpfen noch viele politische Gefangene um ihr Leben und ihre Würde in den Gefängnissen der Mullahs. Zum Beispiel Soheil Arabi, ein politischer Gefangener, der wegen „Verbreitung von Lügen mit der Absicht, die öffentliche Meinung über Telekommunikationssysteme zu stören“ angeklagt wurde. Dabei ging es um einen Fall, der erst kürzlich schon während seiner Haft eröffnet wurde. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren, einer Geldstrafe von 5 Millionen Toman (ca. 100 Euro) und einem Strafzuschlag verurteilt. Ende Juli hatte Soheil Arabi eine Erklärung aus dem Gefängnis abgegeben, in der er Solidarität zeigt mit den Kämpfen der Bevölkerung für eine bessere Wasserversorgung. (https://schwarzerpfeil.de/2021/07/28/soheil-arabi-ich-bin-durstig-iran/)
Aber die staatliche Repression des islamistischen Regimes ist allgegenwärtig. Zum Beispiel an der Grenze zwischen Iran und Kurdistan, wo zahlreiche Männer als illegalisierte Lastenträger arbeiten. Sie werden als „Kolbar“ bezeichnet und transportieren auf dem Rücken schwere Güter von und nach Irak, Syrien und Türkei. Immer wieder werden die Kolbar von Grenztruppen beschossen, so auch am 08.08. Omid Khezri (47) aus Mahabad. In der iranischen Region West-Aserbaidschan wurde er an der Grenze nahe der Provinzhauptstadt Baneh erschossen. Auch ein 18-jähriger Kolbar, Farhad Ismaili, wurde schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht nachdem die Beamten das Feuer auf ihn eröffnet hatten.
Tage zuvor hatten iranische Grenzsoldaten bei Hangeh-ye Zhal in der kurdischen Grenzregion Baneh auf eine Gruppe Kolbar geschossen. Dabei wurde Fereydoun Nasseri getötet und fünf weitere Lastenträger verletzt als aus kurzer Distanz und ohne Vorwarnung auf sie gefeuert wurde. Erst kürzlich hat der Geheimdienst der iranischen Grenztruppen (IRGC) bei einer Reihe von Razzien mindestens 10 kurdische Aktivist*innen in Bukan in der Provinz West-Aserbaidschan verhaftetet und sie in das Verhörzentrum der Kaserne Al-Mahdi-Kaserne in Orumiyeh gebracht. Mitte August wurde in der Hauptstadt Teheran eine Gruppe von Anwält*innen und Bürgerrechtler*innen von Sicherheitskräften festgenommen und an einen unbekannten Ort gebracht.
Seit Anfang August ist nun Ebrahim Ra’isi zum neuen Präsidenten der Islamischen Republik Iran gewählt worden. Bereits im Alter von 27 Jahren war er der stellvertretende Staatsanwalt in einem berüchtigten Standgericht der Islamischen Revolution, das Tausende politischer Gefangener ohne Verfahren zum Tode verurteilte und hinrichten ließ.
Um so wichtiger ist es, dass angesichts des katastrophalen Sieges der sunnitischen Taliban in Afghanistan, der andauernde islamistische Terror im Iran nicht in Vergessenheit gerät. Daher solidarisieren wir uns mit allen Menschen vor Ort, die gegen die Islamische Republik Widerstand leisten und versuchen der terroristischen Staatsgewalt zu entkommen. Kämpfen wir gemeinsam für eine freie, selbstbestimmte Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung.
Anarchistisches Forum Köln