Die Krise im Irak hält bereits seit Jahrzehnten an, seit sich das Land unter der Macht von Saddam Hussein oder unter dem „momentanen demokratischen Regime“ nach der Invasion von 2003 befunden hat. Es gab keine Freiheit, keinen sozialen Frieden, keine Gleichberechtigung und nur wenig Möglichkeiten für jene, die unabhängig von den herrschenden politischen Parteien waren.
Zusätzlich zu der vorhandenen Brutalität und Diskriminierung gegenüber Frauen und gegen die einfachen Leute ging die Schere zwischen den Reichen und den Armen immer weiter auseinander. Dadurch wurden die Armen noch ärmer und die Reichen noch reicher.
Die aktuelle Krise ist von dem oben Genannten nicht weit entfernt. Tatsächlich ist sie die Weiterführung der gleichen Situation, wie sie schon seit Jahrzehnten besteht. Der einzige Unterschied sind die Namen der herrschenden Parteien und deren Machtverhältnisse.
Die Politiker/innen und die Massenmedien würden uns gerne glauben lassen, dass die jetzigen Kämpfe eine Fortsetzung der alten Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen den beiden großen islamischen Religionslehren, der Schiiten und der Sunniten, sind. Und dass sie eine blutige Geschichte hätten, die fast bis zur Geburtsstunde der islamischen Religion zurückgeht.
Wenn wir in die Geschichte von Nationen, Ländern und ihrer Bewohner/innen zurückschauen, so gab es immer Kämpfe zwischen den Mächtigen und den Machtlosen, zwischen Unterdrücker/innen und Unterdrückten, zwischen Besatzer/innen und Besetzten, zwischen Invasor/innen und jenen Menschen, die gegen die Mächte, Autoritäten und Staaten gekämpft haben.
Kurz gesagt handelt es sich um einen Krieg um mehr Kapital und Gewinne. Was im Irak heute unter dem Namen „Islamischer Staat in Irak und Syrien“ (ISIS) passiert, ist weit von dem entfernt, was uns die Massenmedien darstellen und erzählen. Folgende Fakten sind dabei zu berücksichtigen:
– Einerseits handelt es sich beim Vormarsch der ISIS um eine kleine Minderheit, die Unterstützung bekommt von einer Fraktion Sunnit/innen, die von der schiitischen Führung in Bagdad enttäuscht sind. Außerdem beteiligen sich sunnitische Klanführer, Ba’ath-Parteimitglieder, ehemalige Armeeoffiziere und Fraktionen des vorherigen Aufstands an dem gemeinsamen Plan zum Kampf gegen den irakischen Premierminister Nouri al-Maliki.
– Als ISIS auf Mossul zu marschierte und die drittgrößte Stadt im Irak besetzte, waren sie weniger als 2.000 Kämpfer. In der Stadt gab es jedoch rund 60.000 Sicherheitskräfte aus Polizei, Armee und Geheimdiensten. Diese Armee war schwer ausgerüstet mit Kampfflugzeugen, Panzern und verschiedenen Arten mächtiger Waffen. Doch diese Armee ist in sich zusammengebrochen und mit wenig oder keinem Widerstand vor ISIS und den anderen Kämpfern geflohen.
– Andererseits ist es eher wahrscheinlich, dass es sich dabei um einen Plan der Türkei, der Golfstaaten und der Kurdischen Regionalregierung (KRG) handelt, von dem die USA und Großbritannien Bescheid wissen. Doch es ist sehr schwer vorauszusagen, was am Ende dabei herauskommt, denn meistens hängt es von den Interessen der USA und der westlichen Staaten ab, wie sie einen Aufstand oder eine Bewegung bewerten und ob es ihren Interessen dient oder nicht.
– Bisher haben die USA und Großbritannien auf der Einheit der irakischen Bevölkerung bestanden, die unter dem gleichen System leben sollten. Wenn aber ihre Interessen bedroht sind, würden sie nicht davor zurückschrecken den Irak in drei Teilstaaten zwischen Kurd/innen, Sunnit/innen und Schiit/innen aufzuteilen.
– Denn die momentane Situation hat den Irak an die Grenze eines Bürgerkrieges gebracht, besonders nachdem Ayatollah Ali Al-Sistani, einer der einflussreichsten schiitischen Islamgelehrten, eine Fatwa erlassen hat, dass die Bürger zu den Waffen greifen und sich zum Militär melden sollen.
– Zudem sind wir uns sehr sicher, dass es auch versteckte Pläne gibt: Wir glauben, dass ein Ziel dieses Krieges darin besteht, die demokratische Massenbewegung und Lokalverwaltung der Kurd/innen im syrischen Westkurdistan zu umzingeln und zu zerschlagen. Diese Massenbewegung hat gezeigt, dass es eine Alternative gibt zu den Nationalstaaten, dem (Neo-)Liberalismus und seinen Regierungen.
Sie hat auch gezeigt, dass eine Massenbewegung nicht dem „Arabischen Frühling“ folgen muss, der in der Gründung islamischer Regierungen endete. Außerdem hat diese Bewegung aufgezeigt, wie dass die Leute besser ohne Unterstützung von den USA, der EU und ihrer Agent/innen auskommen können. Es hat sich herausgestellt, dass die Revolution von der Basis der Gesellschaft kommen muss, nicht von Oben herab. Und dass dies erreicht werden kann durch den Aufbau lokaler Gruppen, die die meisten Entscheidungen selbst und für sich treffen können. Diese Bewegung liegt eindeutig nicht im Interesse der Politiker/innen und des Neoliberalismus, weshalb der nächste Schritt ein Angriff auf Westkurdistan und die dortige Massenbewegung sein wird.
Angesichts dessen lehnen wir, das „Forum von Anarchist/innen aus Kurdistan“ (KAF) diesen Krieg ab, der gegen die irakische Bevölkerung begonnen wurde. Und wir glauben, dass die Organisierung der Menschen unabhängig von politischen Parteien, Kriegstreiber/innen, staatlichen Einrichtungen und Regierungen stattdessen an ihrem Arbeitsplatz, ihren Nachbarschaften, Schulen, Universitäten und auf den Straßen stattfindet.
Dadurch ist es möglich sich zu vereinigen und gemeinsam gegen Krieg, Ungerechtigkeit, Armut, Hunger, Ungleichheit und Unterdrückung zu kämpfen. Denn dies wird uns von dem brutalen System ihrer Staaten, Unternehmen, Finanzinstitutionen, neoliberalen Massenmedien und von ihren Spion/innen und Agent/innen systematisch aufgezwungen.
Forum von Anarchist/innen aus Kurdistan (KAF)
18.06.2014
Quelle:
http://anarkistan.wordpress.com/2014/06/23/what-do-we-think-about-the-current-crisis-of-iraq/
Übersetzung:
Anarchistisches Forum Köln, http://anarchistischesforumkoeln.blogsport.de