Der Aufstand im Libanon und seine Hintergründe

Die Menschen in dem arabischen Mittelmeerstaat Libanon führen seit Mitte Oktober 2019 mit Massenprotesten und direkten Aktionen einen Kampf gegen die Unfähigkeit des herrschenden Regierungsystems und die Korruption der unterschiedlichen Elitenfraktionen.

Monatelang wurden Versammlungen und Demonstrationen in allen
Landesteilen organisiert, auch nach dem Rücktritt des Kabinetts von Saad Hariri. Die vielfältige Bewegung errichtetete dabei auch Protestcamps für Diskussionen, medizinische Hilfe, Kinderbetreuung, Rechtsberatung und Vorträge. Über 500 Festnahmen und noch mehr Verletzte sind die Folge andauernder Angriffe von Polizei und reaktionären Milizen, während sich auch Anfang Februar 2020 noch hunderte Demonstrant*innen nächtliche Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften lieferten und dabei gezielt Bankfillialen zerstörten.

Eines der dringendsten Probleme der Bevölkerung ist nämlich die aktuelle Wirtschaftskrise in dem vorderasiatischen Land. Wobei durch den Wertverfall des Libanesischen Pfund und einer steigenden Inflationsrate von über 6% die Haushalte einen massiven Kaufkraftverlust hinnehmen müssen. Ohnehin liegt das jährliche Pro-Kopf-Einkommen nur bei 6.706 Euro im Durchschnitt. Und die Herrschenden sehen sich gezwungen angesichts der Kreditforderungen ausländischer Regierungen und der Weltbank straffe Sparmaßnahmen und neoliberale Privatisierungen
voranzutreiben.

Daher leiden viele der fast 7 Millionen Einwohner*innen unter unsicheren Arbeitsverhältnissen, Niedriglöhnen, Kurzarbeit, Verschuldung und Erwerbslosigkeit. Hinzu kommt eine milliardenhohe Staatsverschuldung, mit Devisenmangel und steigenden Preisen für Importprodukte, sowie einer
mangelhaften Infrastruktur. Vor allem der Abbau von Müllabfuhr, Strom- und Wasserversorgung, durch korrupte Vettern*wirtschaft macht der Bevölkerung zu schaffen. Auch die Unfähigkeit der Regierung bei der Bekämpfung der schweren Waldbrände schürte den Unmut der Menschen im Land.

Hinzu kommt die ausbeuterische Klientelpolitik des arabischen
Bürgschaftssystems (Kafala) und eine weit verbreitete
politisch-wirtschaftliche Abhängigkeit von mächtigen
Religionsführer*innen durch Bestechlichkeit und Begünstigung. Vor allem die rund 250.000 migrantischen Hauswirtschafter*innen aus Afrika und Asien leiden unter sklavenähnlicher Ausbeutung und bevormundender Kontrolle durch private Arbeitgeber*innen. Eine Vielzahl dieser meist weiblichen* Care-Arbeiter*innen werden zudem durch rassistische Ausgrenzung und Abschiebung, sowie durch die allgegenwärtige sexualisierte Gewalt bedroht.

Neben der prekären Menschenrechtslage im Libanon in der Folge
jahrzehntelanger Bürger*kriegszustände, stehen nun vor allem
wirtschaftlich-politische Forderungen im Vordergrund der Proteste. Nicht nur in der westlich-liberal geprägten Hauptstadt Beirut gehen jetzt Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen gegen das korrupte
Herrschaftssystem auf die Barrikaden. Auch in der verarmten
Sunnit*innen-Metropole Tripoli im Norden oder in der schiitischen
Hochburg Tyre im Süden der Republik kommt es seit Ende 2019 zu
Massenprotesten. Dabei kommen vielen Leuten die Erinnerungen aus dem Arabischen Frühling im Jahr 2011 wieder auf und verbreiten Hoffnung.

Diskussion in Protestcamp

Bei einem Generalstreik Ende Oktober ging eine Millionen Arbeiter*innen auf die Straße. Banken, Geschäfte, Schulen und Universitäten wurden wegen der Arbeitniederlegungen geschlossen. In der Hauptstadt Beirut wurde ein leerstehendes Kino besetzt und auf einem zentralen Platz ein Protestcamp für Dauerversammlungen und Diskussionen errichtet.
Hunderttausende versuchten zum militärisch abgeriegelten
Parlamentsgebäude vorzudringen, aber die Polizei stoppte sie mit
Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen.

Immer wieder singen die Leute Protestlieder, tanzen gemeinsam und rufen Sprechchöre, die eine Revolution und den Sturz des gesamten Regimes fordern. Doch weder einzelne Reformen, wie die Zurücknahme der geplanten WhatsApp-Steuer, noch der Rücktritt der regierenden Politiker*innen konnte bisher die Welle der Protestbewegung aufhalten. Auch nach Monaten der Massenmobilisierung gab es im Januar 2020 immer wieder
Großdemonstrationen und gewaltsame Straßenschlachten mit
Straßenblockaden und brennenden Barrikaden.

Die traditionelle Spaltung in verschiedene christliche und muslimische Glaubensgemeinschaften, deren Milizen sich im Bürgerkrieg (1975-1990) blutige Kämpfe geliefert hatten, bildete seit Jahrzehnten die Grundlage für die Regierungsbildung. Dabei wurden nach einem starren System die politischen Posten zwischen den Warlord-Fraktionen aufgeteilt und jede Seite bereicherte sich am Steuereinkommen, um ihre eigene Klientel durch Zuwendung unter Kontrolle zu halten. Die schiitische Hisbollah-Miliz mit
ihren rund 40 000 bewaffneten Kämpfer*n und über 100 000 Raketen bildet bis heute einen militaristischen Parallelstaat innerhalb der Republik.

Der Einfluss anderer Regierungen auf die Landespolitik zeigt sich, neben dem Dauerkonflikt mit dem Nachbarland Israel, vor allem in der ständigen Einmischung der schiitischen Regime in Syrien und Iran, aber auch durch den Einfluss der sunnitischen Saudis und Emirate, sowie der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Die Allgegenwart der libanesischen Nationalfahnen auf den Protestdemonstrationen zeigt dabei nicht nur die vereinte Unzufriedenheit der einfachen Leute mit der eigenen
Führungselite, sondern auch die Gefahr einer patriotischen Abgrenzung von „ausländischen Mächten“.

Sitzblockade

So führte die wachsende Ablehnung der über 1,5 Millionen syrischen Flüchtlinge aus dem benachbarten Bürger*kriegsland bereits dazu, das die libanische Elite mediale Hetzjagden auf „Schwarzarbeiter*innen“ veranstaltet hat. Solch eine ausländerfeindliche Stimmung kann von den Herrschenden leicht benutzt werden, um mit nationalistischen Parolen die
Protestbewegung einzubinden und eine gewalttätige Atmosphäre auf vermeintliche Sündenböcke abzulenken.

So wird beispielsweise den palästinensichen Flüchtlingen, die immernoch in einem Dutzend „selbstverwalteter“ UN-Lager leben müssen, eine rechtliche Gleichstellung mit libanesischen Arbeiter*innen weiterhin verwehrt. Sie unterliegen zudem zahlreichen Berufsverboten, vor allem bei gutbezahlen und hochqualifizierten Tätigkeiten, wodurch ein staatlich geförderter Niedriglohnbereich durch systematische, fremdenfeindliche Ausgrenzung aufrechterhalten wird. Gleichzeitig müssen
ausländische Arbeitskräfte zwar ebenfalls Sozialabgaben zahlen, dürfen aber selbst keine staatlichen Leistungen in Anspruch nehmen.

Massenprotest

Gegen diese repressive Situation im Land regt sich vereinzelt auch
anarchistischer Widerstand. Gründe dafür sind nicht nur die alltägliche Unterdrückung durch das autoritäre Regime, sondern auch die, von religösen Sekten verbreiteten, gesellschaftlichen Tabus und konservativen Familienstrukturen. Seit Mitte der 1990er Jahre gab es die überregional bekannt gewordene Gruppe „Alternative Communiste Libertaire“, die hauptsächlich publizistisch tätig war. Unter anderem verbreiteten sie Übersetzungen von klassischen anarchistischen Texten in arabischer Sprache (https://albadilaltaharrouri.wordpress.com; z.T. archiviert auf https://www.unioncommunistelibertaire.org).

Die anarchistische Bewegung im Libanon war jedoch in der Vergangenheit tief zerstritten in der Frage des Verhältnisses zu den unterschiedichen Regierungs- und Oppositionsbündnissen. So wurde während und nach der „Zedernrevolution“ von 2005 diskutiert, ob man mit dem, von der schiitischen Hisbollah-Miliz unterstützten, Oppositionsbündnis gegen die damalige anti-syrische Regierung zusammenarbeiten solle. Vor allem
autoritäre Kommunist*innen verfolgten nämlich die anti-imperialistische Politik einer taktischen Unterstützung des „Feind des Feindes“.

Die mit dem Iran und Syrien kooperierende Hisbollah („Partei Gottes“) war nach der Ermordung des sunnitischen Ex-Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri gemeinsam mit der Kommunistischen Partei und der „Freien Patriotischen Bewegung“ an der oppositionellen „Allianz des 08. März“ beteiligt, von der sich beispielsweise die libanesischen Red & Anarchist Skinheads (RASH) aus emanzipatorischen Gründen ausdrücklich distanzierten. Die RASH lehnten sowohl das Regierungsbündniss aus Liberalen, Faschist*innen und Sozialdemokrat*innen ab, wie auch die
Opposition aus Islamist*innen und Nationalpatriot*innen (vgl.
Graswurzelrevolution Nr. 321, September 2007).

Die Alternative Communiste Libertaire (Al-Badil al-chouyouii
al-taharrouri) hingegen sah damals in der anti-syrischen Regierung aus rechten Christ*innen und neoliberalen Sunnit*innen das „kleinere Übel“, ohne jedoch deren Politik aktiv zu unterstützen. Auch im Zweiten Libanonkrieg 2006 wurde das Verhältnis zum verfeindeten Nachbarstaat Israel, der die antisemitische und anti-zionistische Hisbollah militärisch bekämpft, zum Streitpunkt zwischen vielen Linken. Die anarchistischen Skinheads waren während und nach dem Zweiten Libanonkrieg nicht nur in der Flüchtlingshilfe im Süden des Landes aktiv, sondern pflegten aus antinationaler Sichtweise natürlich auch den Kontakt mit der israelischen Gruppe Anarchists Against the Wall (AATW).

Angesichts solcher Konflikte ist es um so erfreulicher, dass sich in den anhaltenden Protesten im Libanon nun auch starke Stimmen für eine Trennung von Staat und Religion erheben. Hauptsächlich wurde bisher eine „neutrale“ Übergangsregierung aus Technokrat*innen gefordert, solange bis Neuwahlen organisiert werden.

Anarchist*innen auf Demo im Libanon

Auch die im Dezember 2019 gegründete anarchistische Gruppe Kafeh (https://kafeh.org) beteiligt sich an den jüngsten Protesaktionen. Sie kämpfen für Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit, sowie für eine säkulare Gesellschaft. Anstelle des autoritär-patriarchalen Herrschaftssystems und der kapitalistischen Ausbeutung setzen sie sich für dezentrale, lokale Kommunen ein, welche die Grundlage für eine Selbstbestimmung der Bevölkerung und die Erhaltung der natürlichen Umwelt sein könnten (siehe https://www.facebook.com/kafeh.lebanon/).

Obwohl Ende Januar 2020 eine Expert*innen-Regierung unter Ministerpräsident Hassan Diab verkündet wurde, werden sich die Aktivist*innen von Kafeh an den anhaltenden Protesten weiterhin beteiligen. Schließlich lautet die weit verbreitete Forderung nach einem Rücktritt der gesamten politischen Klasse: „Alle heißt alle!“ (Kellon, Ya’ni Kellon).

CC: BY-NC